Der Leichenstein

Auf dem Wege von Breitau nach Ulfen steht ein moos umsponnener, alter grauer Leichenstein. Er ist plump zugehauen und zeigt Kreuzform. Auf der Vorderseite des Steines zeigt sich in eine Axt. Dieser Leichenstein hat seine Geschichte. Schreckhafte Naturen sagen, es ginge in seiner Nähe nachts um. Der Grund zu diesem Aberglauben liegt darin, dass in der Nähe des Steins Rehe über die Straßen wechseln. Die Geschichte über die die Phantasie abergläubiger Schreiber lodern lässt und die Landstraße nachts 12 Uhr mit Geistern bevölkert, ist kurz erzählt, folgend:

Die sächsische Nebenstraße oder Nürnbergerstraße, an welcher Breitau und Ulfen liegt, war von dem Bau der Eisenbahnen eine Verkehrsader, die vielseitig von Händlern und Kaufleuten benutzt wurde. Die Straße steigt oft heftig und Pferde und Fuhrmann hatten in alter Zeit große Mühe die Lasten der Wagen über die steilen Köpfe zu bringen. Bedenkt man noch, dass die Wege gar so steil gebaut wurden im Interesse der Bauern, so wird man einsehen, dass die steilen Wege nur mit Vorspann passiert werden konnten. Die Bewirtschaftung der Länder ist sowieso nicht sehr rentabel, weshalb diese Vorspanndienste gerne exerziert? wurden. In Ulfen lebte nun zu Anfang des vorigen Jahrhunderts ein Bauer namens Bodenstein, der zu Vorspanndiensten bis zu 25 Jahren bereit hatte. Die Breitauer Familien, welche diese Dienste leistete hieß ebenfalls Bodenstein, welcher Name in hiesiger Gegend sehr häufig vorkommt. Zwischen beiden Familien hatte sich im Laufe der Jahre aus Geschäftsneid eine stille Rivalenschaft heraus gebildet, die durch geringe Verträglichkeit auch geschürt wurde. Der Streit war noch nicht offen ausgetragen aber jeder Tag erwartete ihn. Dazu kam, dass die Neigung der ältesten Söhne beider Familien auf dasselbe Mädchen fiel. Überall, wo die Nebenbuhlen sich trafen, vertrugen sie sich nicht, jedes Fest endete im Streit. Die Verhältnisse waren mit der Zeit unhaltbar geworden. Eines Tages waren beide Männer zum Holzfällen gefahren. Es war Sommer, die Nacht war früh hereingebrochen. Ein Gewitter stand am Himmel. Die Fuhrwerke der Rivalen begegneten sich. Links steigen steil die Berge an, rechts fällt der Weg zur Ulfe ab – der Weg ist schmal. Vorsicht beim Ausweichen ist nötig. Da erhellt ein Blitzschlag den Weg; die Gegner haben sich erkannt — !
Keiner weicht aus, prasselnd sausen die Peitschen aber auf die Pferde, fast rennen beide Fuhrwerke zusammen. Die Pferde scheuen, bäumen, schlagen. Im Nu sind beide Fuhrleute abgesprungen. In den Fäusten halten sie die langen blanken Holzäxte. Schon sind die Äxte erhoben – keiner denkt an Deckung, einer sinkt durch den Axtschlag des anderen mit zertrümmertem Schädel zu Boden. Später fand man die beiden Leichen. Niemand brauchte eine Erklärung, man kannte die Ursache die beide Männer in den Tod getrieben hatte. Unter dem alten Leichenstein liegen sie begraben – und abends sollen die Mütter der Mörder am Leichenstein sich getroffen haben. Bei der Unglück hat den alten gemeinen Hass geschmolzen – nur weinend und trauernd haben sich die Alten über der Erde, die das Blut ihrer Kinder getrunken, die Hand zur Versöhnung gereicht.
Lehrer Wiegand

Leichenstein